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1. Der Besuch

 

Simon

Lucy Gringe ergatterte den letzten Sitzplatz auf der Morgenfähre von Port. Sie quetschte sich zwischen einen jungen Mann, der ein angriffslustiges Huhn in den Armen hielt, und eine hagere, erschöpft aussehende Frau, die in einen Wollmantel gehüllt war. Die Frau, die unangenehm durchdringende blaue Augen hatte, warf ihr nur einen kurzen Blick zu und sah dann wieder weg. Lucy stellte ihre Tasche neben ihren Füßen ab, um den Platz zu besetzen. Sie hatte nicht die Absicht, während der Fahrt zur Burg auch nur ein einziges Mal aufzustehen. Die Frau mit den blauen Augen würde sich daran gewöhnen müssen, dass sie eingeklemmt war. Lucy drehte sich um und blickte zum Kai zurück. Sie sah Simon Heap am Ufer stehen, eine verfroren und einsam wirkende Gestalt, und sie schenkte ihm ein kurzes Lächeln.

Es war ein trüber, kalter Morgen, und Schnee lag in der Luft. Simon fröstelte und erwiderte ihr Lächeln gequält. »Pass auf dich auf, Lu!«, schrie er gegen den Krach an, der das Anschlagen des Segels begleitete.

»Du auch!«, rief Lucy zurück und stieß mit dem Ellbogen das Huhn beiseite. »Am Tag nach der Längsten Nacht bin ich wieder da. Versprochen.«

Simon nickte. »Hast du meine Briefe?«, rief er.

»Natürlich«, erwiderte Lucy. »Wie viel?« Die Frage war an den Fährjungen gerichtet, der den Fahrpreis kassierte.

»Sechs Pennys, Schätzchen.«

»Nenn mich nicht Schätzchen!«, brauste Lucy auf, kramte in ihrem Portemonnaie und ließ einen Haufen Messingmünzen in die ausgestreckte Hand des Jungen fallen. »Dafür könnte ich mir ja ein eigenes Boot kaufen«, moserte sie.

Der Junge zuckte mit den Schultern. Er reichte ihr die Fahrkarte und wandte sich der Fremden neben ihr zu, die, nach ihrer verschmutzten Kleidung zu urteilen, eine lange Reise hinter sich hatte und eben erst in Port eingetroffen war. Die Frau gab dem Jungen ein großes Geldstück aus Silber – eine halbe Krone – und wartete geduldig, bis er umständlich das Wechselgeld abgezählt hatte. Als sie ihm höflich dankte, bemerkte Lucy, dass sie einen fremden Akzent hatte, der sie an jemanden erinnerte, doch sie kam nicht darauf, an wen. Bei der Kälte konnte sie nicht klar denken. Außerdem war sie zu aufgeregt. Sie war lange nicht mehr zu Hause gewesen, und nun, da sie auf der Fähre zur Burg saß, wurde ihr bei dem Gedanken daran doch ein wenig bang. Sie wusste nicht, wie sie empfangen werden würde. Und sie ließ Simon nur ungern allein.

Die Fähre geriet in Bewegung. Zwei Hafenarbeiter stießen das lange, schmale Boot vom Ufer ab, und der Fährjunge hisste das verschlissene rote Segel. Lucy winkte Simon ein letztes Mal zu, dann schwenkte die Fähre von der Kaimauer weg und steuerte auf die Mitte des Flusses hinaus in die starke Strömung. Von Zeit zu Zeit blickte Lucy zurück. Simon stand noch immer am Kai. Seine langen blonden Haare wehten im Wind, und die Schöße seines hellen Wollmantels flatterten hinter ihm wie Mottenflügel.

Simon blickte der Fähre nach, bis sie langsam in den Dunst eintauchte, der in Richtung Marram-Marschen über dem Fluss lag. Als sie endgültig verschwunden war, stampfte er mit den Füßen, um sich zu wärmen, und machte sich dann auf den Weg durch das Gewirr der Straßen, zurück in sein Dachzimmer im Zollhaus.

Auf dem letzten Treppenabsatz im Zollhaus angekommen, stieß Simon die mit Latten verkleidete Tür zu seinem Zimmer auf und trat über die Schwelle. Die eisige Kälte, die ihm entgegenschlug, nahm ihm den Atem. Er spürte sofort, dass etwas nicht stimmte – in der Dachkammer war es immer kalt, aber nicht so kalt. Dies war eine schwarzmagische Kälte. Hinter ihm knallte die Tür zu, und als käme es vom anderen Ende eines langen, tiefen Tunnels, hörte er, wie der Türriegel zuschnappte und ihn zum Gefangenen in seinem eigenen Zimmer machte. Mit klopfendem Herzen zwang er sich, sich umzusehen. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, von seinen alten schwarzmagischen Künsten nie wieder Gebrauch zu machen. Aber manche setzten sich, wenn man sie einmal erlernt hatte, selbsttätig in Gang – wie zum Beispiel die Fähigkeit, Dunkelwesen zu sehen. Und so sah Simon – im Unterschied zu den meisten Leuten, die, wenn sie das Pech haben, einem Gespenst zu begegnen, nur wabernde Schatten und einen Hauch von Verwesung wahrnehmen – das Gespenst in allen unappetitlichen Einzelheiten. Es hockte auf seinem schmalen Bett und beobachtete ihn mit verschleiertem Blick. Simon wurde übel von dem Anblick.

»Willkommen.« Die tiefe drohende Stimme des Gespenstes erfüllte den Raum und jagte Simon einen kalten Schauer über den Rücken.

»Äh ... äh ...«, stammelte er.

Mit Genugtuung bemerkte das Gespenst die Angst in seinen dunkelgrünen Augen. Es klappte die langen, spindeldürren Beine übereinander, nagte an einem Finger, von dem sich die Haut abpellte, und sah Simon dabei boshaft an.

Vor nicht allzu langer Zeit hätte der Blick eines Gespenstes Simon nichts ausgemacht. Als er noch im Observatorium in den Ödlanden wohnte, hatte er sich hin und wieder sogar die Zeit damit vertrieben, ein Gespenst herbeizubeschwören und dann so lange anzustarren, bis es verlegen wegsah. Nun aber brachte er es kaum über sich, zu dem halb verwesten Bündel aus Lumpen und Knochen auf seinem Bett hinzuschauen, geschweige denn, ihm in die Augen zu sehen.

Das Gespenst bemerkte natürlich Simons Widerwillen und spie ein schwarzes Stück Fingernagel auf den Boden. Unwillkürlich musste Simon daran denken, was Lucy wohl sagen würde, wenn sie das auf dem Fußboden fände. Der Gedanke an Lucy gab ihm den Mut zu sprechen.

»Was willst du?«, fragte er leise.

»Dich«, antwortete die hohle Stimme des Gespenstes.

»Mi... mich?«

Das Gespenst sah ihn verächtlich an. »Di...dich«, erwiderte es höhnisch.

»Warum?«

»Ich bin gekommen, um dich zu holen. Wie es in deinem Vertrag steht.«

»In meinem Vertrag? In welchem Vertrag?«

»Den du mit unserem alten Meister geschlossen hast. Du bist immer noch daran gebunden.«

»Was? Aber ... aber er ist doch tot. DomDaniel ist tot.«

»Der Besitzer des Ringes mit dem Doppelgesicht ist nicht tot«, erwiderte das Gespenst.

Simon war entsetzt. Wie von dem Gespenst beabsichtigt, nahm er an, dass der Besitzer des Rings nur DomDaniel sein konnte. »DomDaniel ist nicht tot?«

Das Gespenst ging auf die Frage nicht ein, sondern wiederholte nur seine Anweisung. »Der Besitzer des Rings mit dem Doppelgesicht verlangt nach dir. Du wirst ihn unverzüglich aufsuchen.«

Simon war vor Schreck wie gelähmt. All seine Bemühungen, die Schwarzkünste hinter sich zu lassen und mit Lucy ein neues Leben zu beginnen, schienen plötzlich vergeblich. Er verbarg das Gesicht in den Händen. Wie hatte er nur so dumm sein können und glauben, er könnte den Dunkelmächten entrinnen? Das Knarren einer Fußbodendiele ließ ihn aufschauen. Das Gespenst kam auf ihn zu und streckte seine Knochenhände nach ihm aus.

Simon sprang auf. Ganz gleich, was jetzt geschah, aber zu den Dunkelmächten würde er nicht zurückkehren. Er stürzte zur Tür und riss an der Klinke, aber die Tür bewegte sich nicht. Das Gespenst war jetzt dicht hinter ihm, so dicht, dass er die Verwesung riechen und ihren bitteren Geschmack auf der Zunge schmecken konnte. Er blickte zum Fenster hinüber. Es ging tief hinab.

Seine Gedanken überschlugen sich, während er zum Fenster rannte. Wenn er sprang, landete er mit etwas Glück auf dem Balkon zwei Stockwerke tiefer. Vielleicht bekam er auch das Regenrohr zu fassen. Oder sollte er sich lieber aufs Dach hinaufhangeln?

Das Gespenst sah ihn ungehalten an. »Lehrling, du wirst jetzt mitkommen. Oder muss ich dich holen?« Seine Stimme tönte unheilvoll in der niedrigen Kammer.

Simon entschied sich für das Regenrohr. Er riss das Fenster auf, kletterte halb hinaus und fasste nach dem dicken schwarzen Rohr, das an der Mauer des Zollhauses nach unten lief. Hinter ihm brach ein wütendes Geheul los, und als er die Füße vom Fenstersims schwingen wollte, spürte er eine unwiderstehliche Kraft, die ihn wieder ins Zimmer zog – das Gespenst hatte ihn mit einem Holzauber belegt.

Simon wusste, dass er so einem Zauber nicht widerstehen konnte, und dennoch klammerte er sich verzweifelt an das Rohr. Gleichzeitig wurde er so kräftig an den Füßen gezogen, dass er sich wie ein Seil beim Tauziehen vorkam.

Plötzlich brach das rostige Metall, das sich unter der dicken schwarzen Farbe verbarg, in seinen Händen, und Simon flog samt Rohr und allem ins Zimmer zurück. Er knallte gegen den knochigen – und dennoch eklig weichen – Leib des Gespensts und stürzte zu Boden. Zu keiner Bewegung fähig, blieb er liegen.

Das Gespenst grinste auf ihn herab. »Du wirst mir jetzt folgen«, flötete es.

Wie eine Puppe wurde Simon auf die Beine gestellt, wankte aus dem Zimmer und stakste mit ruckartigen Schritten die lange, schmale Treppe hinunter. Das Gespenst schwebte voraus.

Draußen auf dem Hafenplatz verblasste das Gespenst zu einem undeutlichen Schatten, sodass Maureen, die gerade die Fensterläden ihrer Pastetenbäckerei öffnete, nur Simon sah, der steifbeinig über den Kai stelzte und auf die Vordere Gasse zusteuerte. Maureen rieb sich die Augen. Sie musste etwas Staub hineinbekommen haben, denn alles um Simon herum sah merkwürdig verschwommen aus. Sie winkte ihm fröhlich zu, doch er reagierte nicht. Schmunzelnd klemmte sie den letzten Fensterladen fest. Er war schon ein komischer Vogel, dieser Simon. Ständig die Nase in Zauberbüchern oder einen Zauberspruch auf den Lippen.

»Die Pasteten sind in zehn Minuten fertig«, rief sie. »Ich lege dir eine mit Gemüse und Speck zurück.« Aber Simon war bereits in der Seitengasse verschwunden, und Maureen konnte wieder klar und deutlich den leeren Hafenplatz sehen.

Wird jemand mit einem Holzauber belegt, gibt es kein Halten, kein Säumen und kein Verschnaufen, bis der Betreffende an seinem Bestimmungsort eingetroffen ist. Ein ganzen Tag und eine halbe Nacht war Simon unterwegs, watete durch Marschen, schlüpfte durch Hecken, stolperte über steinige Wege. Er wurde von Regengüssen durchnässt, von Winden durchgerüttelt, von Schneegestöber durchkühlt, doch um nichts in der Welt konnte er stehen bleiben. Er marschierte und marschierte, bis er im kalten grauen Licht des nächsten Morgens an einen Fluss gelangte. Er durchschwamm die eisigen Fluten, stieg ans andere Ufer, taumelte über eine taufeuchte Wiese und kletterte schließlich eine bröcklige, efeuberankte Mauer hinauf. Oben angekommen, wurde er durch eine Dachluke gezogen und in eine fensterlose Kammer geschleift. Als die Tür hinter ihm verriegelt wurde und er allein gelassen wurde, ausgestreckt auf dem Boden, wusste er nicht mehr, wer er war. Oder wo er war. Und es war ihm auch egal.

Septimus Heap 06 - Darke
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